Dr. Jürgen Reichen
Zu Beginn der 90er Jahre machten sich unsere damalige Schulleiterin Bärbel Müller und ihre Kollegin und Freundin Gisela Förster auf der Suche nach neuen Ideen für die Arbeit in ihrer Grundschule auf den Weg nach Hamburg. Dort trafen sie auf Jürgen Reichen. Begeistert von seinen Vorstellungen einer „Schule für Kinder“ begannen sie, sich mit seinen Arbeiten und Ideen auseinanderzusetzen. Sie befassten sich eingehend mit seinen Werken, Ausführungen und Materialien. Zurück in Dresden begannen sie mit „Lesen durch Schreiben“ zu arbeiten und setzten seine Werkstätten im Unterricht ein. Damit begann die langfristige Arbeit an unserem heutigen Schulprogramm schon in diesen frühen Nachwende-Jahren.
Seit Mitte der 90er Jahre begleiteten Katrin Quosdorf und Marion Lorber Jürgen Reichen als Mitarbeiterinnen auf seinen Fortbildungsreisen. Sie unterstützten ihn auf seinen „Sommerseminaren“ zu „Lesen durch Schreiben“, die ab den nuller Jahren hauptsächlich in Weimar stattfanden, diskutierten unzählige Stunden mit ihm und erprobten neue Materialien in ihren Klassen. Nach Jürgen Reichens frühem Tod im Jahre 2009 übernahmen sie die Seminare in Eigenregie und führten sie mehrere Jahre fort.
Im Laufe der Zeit kamen immer mehr gleichgesinnte Kolleginnen an unsere Schule. Nun sind wir ein Team, das sich an den Vorstellungen von Jürgen Reichen orientiert, wie Schule für Kinder sein muss, damit diese gleichermaßen Lern- und Lebensort ist, den Große wie Kleine jeden Tag auf’s Neue gern besuchen.
Seit dem Jahr 2011 trägt unsere Schule Jürgen Reichens Namen. Darauf sind wir sehr stolz. Wir sind sehr dankbar, dass viele von uns Jürgen Reichen noch persönlich in seinen Fortbildungen und als Gast unserer Schule erleben konnten.
Ich denke oft an Jürgen zurück, vor allem jetzt in Zeiten von Klima-, Nazi- und anderen Notständen. Zu gern würde ich mit ihm noch einmal eines der langen Gespräche führen, die ich oft mit ihm haben durfte. Am Abend vieler Fortbildungstage spazierten wir durch die jeweiligen Orte und sprachen über „Gott und die Welt“. Wenn wir Glück hatten, gab es einen Eisladen irgendwo in der Nähe. Jürgen liebte Eis. Und Pudding. Jürgen war ein besonders kluger Mensch, mit großer Weitsicht und tiefem Weltverständnis. Er konnte mit Leichtigkeit Ursachen komplexer Probleme erklären. Er war sehr geerdet und beruhigend und hatte diesen gewissen schweizerischen Charme und Witz, zu dem schon allein sein herrlicher Dialekt beitrug. Man konnte ihm stundenlang zuhören. Er war ein großer Redner. Für mich ist er einer der drei Männer, die in meinen jüngeren Jahren besonders wichtig waren. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich als Lehrerin meinen Weg fand und nie die Freude an dieser Arbeit verlor. Katrin Quosdorf
Ich bin immer wieder beeindruckt, mit welchem Mut, mit welcher Standhaftigkeit und in der Umsetzung mit welcher Konsequenz Jürgen Reichen seine pädagogische Grundüberzeugung, dass „Kinder umso mehr lernen, je weniger sie belehrt werden“ vertreten hat. Ich muss sie mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, um die Kinder in ihrer Selbstaktivität nicht auszubremsen. Sophia Weise
Immer wenn ich an Jürgen Reichen denke, bekomme ich Lust auf Kino im Kopf. Ich mag diese Formulierung von ihm sehr und habe nicht nur sein Buch mit diesem Titel gelesen, sondern rege auch Kinder mit diesen Worten zum Lesen an. Toll, wenn jeder sein eigenes Kino stets dabei hat. Antje Meißner
Wenn ich mit Meinungen und Ansichten konfrontiert werde, die über unsere Schule kursieren, muss ich oft an Jürgen Reichens Satz denken, dass es immer zwei Möglichkeiten gibt, sich Informationen zu verschaffen: Recherche oder Dorftratsch. Ich wünsche mir ganz dringend, dass sich Menschen, die über unsere Schule reden, vorher sachkundig machen, indem sie zum Beispiel die Tage der offenen Tür nutzen, um uns und unsere Schule kennenzulernen und mit uns ins Gespräch zu kommen und dadurch Antworten auf Fragen zu finden, bevor sie über unsere Arbeit urteilen. Damit könnte das Verbreiten von Vorurteilen und Unwahrheiten vermieden werden. Marion Lorber
Ich bin Jürgen Reichen für sein Vertrauen in den Lernwillen des Kindes dankbar. Er hat es ermöglicht, dass sich Generationen von Kindern mit der Buchstabentabelle die Welt der Wörter selbst erschließen konnten und den Stolz auf die eigene Leistung erleben durften. Seine Sicht auf das Kind lässt es zu, dass sich jedes Kind individuell entwickeln darf. Kinder auf diesem Lernweg zu begleiten, empfinde ich an unserer Schule als ein unschätzbares Privileg. Maria Pretzer
Ich habe Jürgen Reichen 2009 in Weimar auf einer Fortbildung noch persönlich kennenlernen dürfen. Was mir am stärksten im Gedächtnis geblieben ist, war seine unnachahmliche Art zu erzählen. Man konnte ihm und seinen Geschichten aus dem Schulalltag stundenlang zuhören. Mich hat beeindruckt, welches Grundvertrauen er in Kinder hatte und wie wertschätzend und durchweg positiv er über die Kinder erzählt hat, ohne sich als „allwissender Oberlehrer“ hinzustellen. Ich kann mir Unterricht ohne seine Leselehrmethode „Lesen durch Schreiben“, die vielen von ihm entwickelten Lernmaterialien und die dahinterstehenden Prinzipien des Lernens nicht mehr vorstellen. Sie eröffnen Kindern enorm viele Möglichkeiten und Freiräume, ihren individuellen Lernwegen zu folgen, und ermutigt sie, sich die Welt zu erobern. Ich bin stolz darauf, dass unsere Schule seinen Namen trägt, verbinde ich doch damit auch Reichens bemerkenswerte Standfestigkeit und innere Grundüberzeugung, die er all die Jahre hindurch aufrechterhalten und verteidigt hat. Carmen Pauli
In meiner derzeitigen Qualifizierung der Lehrerfortbildung höre ich Dozenten häufig sagen, wenn sie uns Vorträge über das Lernen halten: „Man kann sich nur selbst bilden.“ Es klingt, als ob sie Jürgen Reichen studiert hätten. Ich weiß es nicht. Oft frage ich mich, warum unsere Schule mitunter so in der Kritik steht, obwohl doch ganz offensichtlich ist, dass die moderne Bildungswissenschaft auf Vordenker wie ihn, auf seine Leitideen und pädagogischen Ansätze zurückgreift. Christiane Lang
Als ich begann, mich mit Jürgen Reichen und seinem Lebensweg auseinanderzusetzen, war ich von seiner Entscheidung sehr beeindruckt, neben seiner wissenschaftlichen Arbeit stets als Klassenlehrer an einer Grundschule tätig zu bleiben. Er brauchte die Arbeit mit den Kindern, er hatte zeitlebens engen Kontakt zu ihnen, um weitere Beobachtungen anzustellen, seine Ideen sofort in der Praxis auszuprobieren bzw. kritisch zu hinterfragen. Sehr sympathisch finde ich immer wieder, wie er in Interviews mit einem Lächeln von sich weist, doch immer noch nicht genau genug zu wissen, wie es bei jedem einzelnen Kind wirklich funktioniert – das Lernen, das Schreiben und Lesen. Für mich zeigt er damit eine große Achtung vor der Komplexität des Lernprozesses und Anerkennung der individuellen Einzigartigkeit jedes Menschens. In seinen Fortbildungen habe ich ihn als einen begnadeten Erzähler mit charmantem, schweizerischen Akzent erlebt, dem man stundenlang zuhören und dabei viel lachen konnte. Steffi Klier
Als ich das erste Mal den Namen „Jürgen Reichen“ hörte, war ich Studentin. Ich besuchte ein Seminar zum Thema „Schreib- und Leselernprozess“. Uns Studenten wurde „Lesen durch Schreiben“ als Methode vorgestellt, die Jürgen Reichen in den 70er Jahren entwickelt hatte. Mehr erfuhren wir über diesen Mann aus der Schweiz nicht. Er wurde wie so oft auf dieses Thema reduziert. Während eines Praktikums konnte ich „Lesen durch Schreiben“ an einer kleinen Dorfschule in Österreich beobachten und war fasziniert von den Texten der Kinder. Sie konnten tatsächlich von Anfang an ihre Gedanken, Wünsche oder Fantastereien aufschreiben. Im Sommer vor meinem ersten Berufsjahr fiel mir das Buch „Hanna hat Kino im Kopf“ in die Hände. Erst da wurde mir bewusst, dass Jürgen Reichens Werk viel mehr als nur eine Leselernmethode ist. Ich war begeistert von seinen Gedanken zum Lernprozess, den Werkstätten und der Öffnung des Unterrichts. In den folgenden Jahren als Lehrerin versuchte ich immer mehr, Reichens Ideen umzusetzen. Leider habe ich Jürgen Reichen nie kennengelernt. Seit ich an der 59. Grundschule arbeite, werde ich durch die Kolleginnen, die ihn persönlich kannten und von ihm erzählen, bereichert. Lucia Thiel
Ich schätze am pädagogischem Erbe von Jürgen Reichen besonders das vielfältige Werkstattspektrum passend zu den Altersklassen mit ihrem umfangreichen Angeboten zum selbsttätigen Wissenserwerb und den „erlebnisorientierten“ Aufträgen, welche die Thematik veranschaulichen und für die Kinder be-greifbarer machen. Chris Erben-Bernert
Als einen der wichtigsten Grundgedanken von Jürgen Reichen sehe ich das Begleiten der Kinder auf ihrem Weg zu „mündigen Bürgern“. Gleich am ersten Schultag wird den Kindern bewusst gemacht, was sie sich schon alles selbst beigebracht haben, bevor sie in die Schule kamen: laufen, sprechen, Ball spielen… Da beginnt für mich Mündigkeit: beim Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, um diese mit einem guten Selbstwertgefühl immer weiter auszubauen und nicht blind den Aussagen von anderen Folge zu leisten. Dies hat in den letzten Jahren noch an Bedeutung gewonnen – auch weil uns Erwachsenen das Denken immer häufiger abgenommen wird, wenn zum Beispiel auf Blumentöpfen extra vermerkt ist, das sie nicht zum Verzehr geeignet sind. Julia Polster
Jürgen Reichen hat oft sehr über die rückständige Schulkultur im deutschsprachigen Lande geschimpft. Er regte sich vor allem darüber auf, dass Lehrer ihre Arbeit als besonders pädagogisch wertvoll einschätzten, wenn sie unzählige Arbeitsblätter erstellten und den Kindern gaben – oft mit weltfremden, teilweise irrwitzigen Aufgaben. Um dies besonders deutlich zu machen, entwarf er mit bitterer Ironie die Werkstatt „Fleischkäse“. Wenn ich den Kindern eine Aufgabe zu einem Werkstattthema stelle, dann denke ich immer an die Aufträge zum Leberkäse. Auf keinen Fall möchte ich meinen Kindern so sinnlose Tätigkeiten zumuten. Eigentlich sind die Aufträge auf die Spitze getrieben und somit witzig. Manchmal allerdings kann ich darüber gar nicht lachen, weil wir im größten Trubel an manchen Tagen selbst uns dazu verleiten lassen, auch so einen Unsinn zu produzieren. Ich hoffe, dass ich mich in den vielen Jahren immer mehr Jürgens Denken annähern konnte. Vielleicht wäre er auch manchmal stolz auf uns. Das würde mir sehr viel bedeuten. Ines Wilde
Im Sommer 2009 konnte ich in Weimar an seinem Seminar für Lehrer teilnehmen und habe ihn noch persönlich kennenlernen dürfen. Ich war sehr beeindruckt davon, wie wertschätzend er mit Kindern arbeitete und wie viel er ihnen zutraute. Mit „Lesen durch Schreiben“ hat er für mich eine Methode entwickelt, bei der man von Anfang an den Kindern in ihrer Welt begegnet. In meiner ersten Klasse hat ein Junge in seinem ersten Schreibversuch „RETUNGSDINST“ geschrieben. Das interessierte ihn, da war er motiviert und hatte Lust am Schreiben. Am Werkstattunterricht nach Reichen schätze ich sehr, dass durch das Chefprinzip alle Kinder in die Verantwortung genommen werden. Sie übernehmen eine Aufgabe in der Werkstatt und bekommen dadurch die Wertschätzung, gebraucht zu werden und wichtig zu sein. Ich wünsche mir sehr, dass viele Kinder und Lehrer in den Genuss kommen, nach seinen Ideen arbeiten zu dürfen. Katrin Sitte
Wer war Jürgen Reichen?
Jürgen Reichen ist am 27. August 1939 in Basel in der Schweiz geboren.
Wenn ihr ihn kennengelernt hättet, ich bin mir sicher, er hätte euch gefallen. Er war ein sehr großer, besonders kluger Mann mit rotblonden, lockigen Haaren. Mit seinem schweizerischen Dialekt konnte er wunderbar erzählen. Viele seine Geschichten brachten einem zum Lachen.
Jürgen Reichen war sehr interessiert daran, was Kinder denken und hörte ihnen oft geduldig und lange zu. Besonders spannend fand er, wenn er durch viele Fragen herausfinden konnte, was Kinder selbst über das Lernen wissen, wie sie es bei sich erleben und wie sie es beschreiben, wenn es am besten geht. So fragte er sie auch häufig, wie „das wohl vonstatten“ ging, dass sie mit einem Male plötzlich lesen konnten.
Er traute den Kindern beim Lernen in der Schule eine Menge zu – mehr als viele andere Lehrer zu seiner Zeit – und bezeichnete sie als „wahre Lernexperten“.
Jürgen Reichen studierte Psychologie und war ein Erziehungswissenschaftler. Die „halbe Arbeitszeit“ forschte er. Dabei überlegte er sich, wie eine Schule sein muss, in der Kinder selbständig und ganz nach ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen lernen können. Er und seine Mitarbeiter entwickelten viele knifflige Aufgaben, Werkstätten zu verschiedenen Themen und Materialien wie den Cubumino, den Big Profi, den Mathematix oder den Little Genius. Die andere „halbe Arbeitszeit“ verbrachte er immer als Lehrer an einer Grundschule, erst in Basel und später lange in Hamburg. So konnte er schnell überprüfen, ob die Kinder mit seinen Aufgaben und seinen Ideen zurechtkamen oder ob er sich etwas Anderes überlegen musste.
Viele Erwachsene kennen vor allem seinen Leselehrgang „Lesen durch Schreiben“. Dafür entwickelte er die Buchstabentabelle, die ihr ja alle kennt. Besonders gut an diesem Lehrgang ist, dass alle Kinder vom ersten Schultag an ihre eigenen Wörter aufschreiben können.
Vor einigen Jahren hat er auch unsere Schule besucht und ich erinnere mich noch, wie beeindruckt er war, weil er viele Kinder beobachten konnte, die sehr selbständig und konzentriert einer Arbeit nach gingen.
Er starb mit 70 Jahren, leider schon viel zu früh, am 19. Oktober 2009.
Unsere Schule heißt seit 2011 „59. Grundschule Jürgen Reichen“. In Deutschland sind wir die einzige Schule, die seinen Namen trägt und darauf sind wir mächtig stolz.
„Unterricht spiegelt seine Qualität nicht in schön geführten Heften, sondern darin, was er im Geist des Kindes anregt und bewegt.“
„Lesen durch Schreiben ist nicht nur eine Lese-Methode, sondern vielmehr der ambitionierte Versuch, dem Ideal eines offenen, kommunikativen und durch den Schüler selbstgesteuerten Unterrichts vom ersten Schultag an den Weg zu ebnen.“
„Der Lehrer hat seine alles überdeckende Dominanz zurückzunehmen und sollte sich mehr als Berater, Moderator oder Helfer verstehen. Die Schüler andererseits sind zu größerer Selbständigkeit aufgefordert. Sie sollen selber Entscheidungen treffen und sich kommunikativ und kooperativ mit ihren Kameraden auseinandersetzen.“
„Kinder lernen umso mehr, je weniger sie belehrt werden.“
„Der Lehrer sollte vor allem darauf achten, die Schüler bei ihrem Lernen nicht zu stören!“
„Lernen bedeutet … eine Sache, die man jetzt noch nicht weiß, jetzt noch nicht kann, nachher zu wissen bzw. zu können. Das heißt, dass Lernen zunächst immer eine Überforderung darstellt und mithin in höchstem Masse „fehleranfällig“ ist. Die Forderung, keine Fehler zu machen, ist von hier aus geradezu lernbehindernd. Fehler zu machen, ist ja gerade das Kennzeichen des Lernenden.“